Aschaffenburg, Kultur, Presse|29. Juli 2011 16:10

Großer Künstler aus einer kleinen Stadt

Die Faszination Ernst Ludwig Kirchners für Lokomotiven und Züge
Der expressionistische Maler verbrachte seine ersten sechs Lebensjahre in Aschaffenburg. Ein neuer Verein will im Geburtshaus des Künstlers ein Dokumentationszentrum einrichten.

Ernst Ludiwig Kirchner in Aschaffenburg

© KirchnerHAUS Aschaffenburg e.V.

Ernst Ludwig Kirchner war ein Aschaffenburger. So ist es korrekt auch im Museum of Modern Art in New York, der Neuen Nationalgalerie Berlin oder dem Städel-Museum in Frankfurt vermerkt, wo seine Bilder ausgestellt sind. In aller Welt ist sein Name ein Begriff. Nur in Aschaffenburg, wo Kirchner 1880 geboren wurde und seine ersten sechs Lebensjahre verbrachte, ist er kaum bekannt. Die wenigsten wissen, dass der berühmte expressionistische Maler am 6. Mai 1880 in Aschaffenburg zur Welt kam und dass sein Elternhaus, das sich vis-à-vis vom Bayerisch-Preußischen Grenzbahnhof befand, wie durch ein Wunder im Gegensatz die schweren Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs überstand. Es ist nahezu unverändert. Selbst das schmiedeeiserne Geländer des Balkons im ersten Stock ist noch erhalten.
Der Verein KirchnerHAUS Aschaffenburg e.V., der sich am Donnerstag (28. Juli) gegründet hat, möchte das ändern und erreichen, dass die Aschaffenburger auf den berühmten Sohn der Stadt stolz sind. Er will die einmalige Chance nutzen, die sich durch einen Eigentümerwechsel des Hauses ergeben hat und die Räume möglichst einer kulturellen Nutzung zuführen. Seit einigen Monaten steht die Kirchner-Wohnung im ersten Stock leer. Sie ist renovierungsbedürftig. Der Zustand der Räume mit ihren Uralt-Tapeten und knarrenden Parkettböden hätte Kirchner wahrscheinlich am wenigsten gestört. Allerdings drängt die Zeit. Denn die Besitzer wollen die Räume vermieten. Der Verein führt deshalb Gespräche mit potentiellen Mietern, ist aber auch aufgeschlossen für Interessenten, die den Wert der Adresse „Im KirchnerHAUS“ zu schätzen wissen.

Der Verein will lediglich einen Raum mieten, der vom Treppenhaus aus und getrennt von der Wohnung zugänglich sein soll. Mit einer Dauerausstellung zu Kirchners Kindheit will er zum einen den Aschaffenburgern bewusst machen, welch bedeutender Künstler der klassischen Moderne hier seine Kindheit verbracht hat. Zum anderen soll deutlich gemacht werden, wie die Lebensjahre in Aschaffenburg Kirchner geprägt haben. Dies belegen seine Davoser Tagebücher, in denen er von der „schönen Stadt Aschaffenburg“ spricht und immer wieder auf seine Kindheitserinnerungen zurückkommt. Er hing an Aschaffenburg und hat das auch immer wieder betont.

Kirchners Vater Ernst war Papierchemiker und eine Kapazität auf dem Gebiet der Papierherstellung. Durch ihn kam der Sohn früh mit Druckgrafik in Verbindung, die später bei der Künstlergruppe „Brücke“ eine wesentliche Rolle spielen sollte. Ob der Vater das Talent seines Sohnes erkannte oder einfach Stolz auf seinen Filius war, wissen wir nicht. Aber er hob selbst die frühen Kinderzeichnungen auf und beschriftete sie. Der Knirps malte, was Kinder eben so malen: den Struwwelpeter, den Weihnachtsmann, den Osterhasen, den Markt und die vorbeifahrenden Züge. Den Jungen faszinierte der gegenüberliegende Grenzbahnhof, der 1854 eröffnet worden war. Von dem Fenster im ersten Stock aus konnte er das Treiben auf der Straße gut beobachten. Schon der Dreijährige hielt Lokomotiven, Eisenbahnzüge und Telegraphenmasten fest. Unter eine Zeichnung notierte der Vater „Ernst allein gezeichnet 21. Jan. 1884“. Ernst Ludwig Kirchner selbst schrieb 1916 in einem Brief: „Als Junge saß ich immer am Fenster und zeichnete, was ich sah; Frauen mit Kinderwagen, Bäume, Eisenbahnzüge, etc.“

Ob man so weit gehen kann, zu behaupten, dass diese Kindheitseindrücke prägend für sein späteres künstlerisches Werk waren, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Er selbst äußerte sich allerdings dazu 1930 in seinen „Bemerkungen über Leben und Arbeit“: „Ich bin am Bahnhof geboren. Das erste was ich im Leben sah, waren die fahrenden Lokomotiven und Züge, sie zeichnete ich, als ich drei Jahre alt war. Vielleicht kommt es daher, dass mich besonders die Beobachtung der Bewegung zum Schaffen anregt. Aus ihr kommt mir das gesteigerte Lebensgefühl, das der Ursprung des künstlerischen Werks ist“.

Kirchner hatte als junger Mann auf Anraten seiner Eltern 1901 mit einem Architekturstudium in Dresden begonnen, das er auch beendete. Er war Gründungsmitglied der Künstlergruppe Die Brücke. Kirchner lebte nach 1917 fast ununterbrochen in der Schweiz in der Nähe von Davos, wo er 1938 seinem Leben ein Ende setzte. Nach dem Krieg erfuhr sein Werk eine immer stärkere Beachtung. 1992 wurde in Davos ein Kirchner-Museum eröffnet, das über eine umfangreiche Sammlung verfügt. Im vergangenen Jahr endete eine große Kirchner-Retrospektive im Frankfurter Städel-Museum, die mehr als 135 000 Besucher anzog. Nicht nur das große Publikumsinteresse, sondern auch die bei Auktionen erzielten Höchstpreise zeugen von der ungebrochenen Wertschätzung des Künstlers.

Die Stadt Aschaffenburg hatte 1946 das Angebot bekommen, für 200 000 Franken sein gesamtes Werk zu kaufen. Aber das Interesse und auch das Geld waren damals nicht vorhanden. Der Wohnungsbau in der zerstörten Stadt galt als vordringlich. Doch ganz vergessen wurde Kirchner nicht. Zum seinem 100. Geburtstag veranstalteten die Museen der Stadt eine Kirchner-Ausstellung mit Werken der Sammlung Gabler im Schloss Johannisburg, und die Kunsthalle Jesuitenkirche führte zum Jahreswechsel 1999/2000 unter dem Titel „Ernst Ludwig Kirchner: Leben ist Bewegung“ eine Ausstellung durch, die unter anderem auch Kirchners Bezüge zu seiner Geburtsstadt herausarbeitete.

(Pressemitteilung des KirchnerHAUS Aschaffenburg e.V.)

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